Ein kleiner Exkurs über den Zettelvoyeur
von Brunhild Hauschild, 5/2013

Einkaufszettel können Schicksale und Lebensumstände offenbaren.
Die Sache mit dem Hunde-oder Katzenfutter ganz oben auf dem Einkaufszettel scheint einfach, oberflächlich betrachtet.
Schon alleine der Hinweis auf die Menge von Trockenfutter oder beworbenen Leckerbissen lässt aufhorchen. Welche Rasse, wie groß, wie wichtig?
Wenn dann Belanglosigkeiten wie Brot, Butter und Milch folgen, ist alles klar. Herrchen oder Frauchen lebt alleine und lebt ausschließlich mit und für ihren Vierbeiner. Wer ist das Herrchen? Versteckte Hinweise wie Bier, Zigaretten, Schips oder Rasierwasser nachfolgend würden vermuten lassen, dass es sich hier um einen männlichen Tierfreund handelt. Frauen brauchen sich nicht aufzuschreiben, dass sie sich mal eine oder zwei Flaschen Bier kaufen wollen.
Auch Kombinationen wie Bratwürstchen, Fleisch, Bier und Grillkohle sprechen für einen männlichen Einkäufer und verraten einen Sommerabend im Freien.
Bei Wein wird es schon schwieriger. Aber Indizien wie Schokolade, Nüsse, Craker bringen den Zettelfinder auf die richtige Spur.
Was sagt die Handschrift? Meist ist die männliche krakelig und ungelenk. Frauen dagegen schreiben geübter, sauberer. Dann gibt es noch die umfangreichen Einkaufszettel für den Wochenendeinkauf. An der Länge und dem Inhalt kann der Zettelvoyeur unschwer erkennen, ob es sich um eine kleine Familie handelt, die da versorgt werden muss oder gar um eine türkische Großfamilie. Auch der Fundort und die Fundzeit sind bezeichnend. Meist landen diese Zettelchen oder Zettel in einem bereitgestellten Papierkorb. In stark frequentierten Spätverkaufsstellen gehen die Verfasser wesentlich achtloser mit ihrem handschriftlichen Werk um.
Einkaufszettel sind einzigartig, weil sie einer nur für sich selbst geschrieben hat. Sie sind zeitdokumentarische Schätze. So verrät eine Werbung auf dem winzigen Stück des Zettelblocks die Herkunft. Vielleicht auch den Arbeitsort des Zettelschreibers.
Einkaufszettel sagen, wie schon erwähnt, zudem viel über den Verfasser aus. Was steht ganz oben, was ist dem Einkaufenden wichtig, was steht in welchem Abstand zu den anderen Notizen?
Hat er schon alte Fettflecke, Eselsohren, verschmierte, hingeklekste Worte von einer ausgelaufenen Kulimine? Ist es ein ernster Schreiber oder hat der einstige Inhaber im Anflug von Langeweile mit Bildchen sein Werk aufgewertet, die Liste gar farbig markiert?
Einkaufszettel können auch soziale Einblicke geben: kauf nur 3 Bier, mehr nicht! Oder: Gesamtausgaben: 9,84 Euro. Mehr ist dann nicht drin.
Mein Bruder Eberhard Hartwig, Maler und Graphiker im Prenzlauer Berg, sammelt seit einigen Jahren die Zettel auf, die ihm über den Weg flattern.
So verschiedenartig, wie die sozialen Strömungen in diesem Schmelztiegel der Stadt sind, so verschiedenartig sind auch die hingekritzelten Einkaufs- und Merkzettelzettel, von denen mein Bruder magisch angezogen wurde.
Er meint, dass diese Zettel ein Phänomen seien, ein interessantes Stück Kunst und Literatur.




© Brunhild Hauschild
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